… eine Buchvorstellung zu Gerard Donovan: Winter in Maine (ISBN 978-3-630-87272-8)
Für Freunde von Statistiken ist das Online-Portal Statista wohl so etwas wie ein Garten Eden. Laut eigener Aussage sind mehr als eine Millionen Statistiken im Vollzugriff abrufbar! Eine vergleichsweise simple Anfrage zum Thema Literaturnobelpreis führte zu folgendem Ergebnis: Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika stellen nach Frankreich die meisten Nobelpreisträger für Literatur – Deutschland teilt sich gemeinsam mit Schweden den vierten Platz.
Unabhängig von den Zahlen bin ich von jeher ein großer Fan englischer und insbesondere amerikanischer Literatur. Zu meinen Favoriten zeitgenössischer Schriften zählen Kent Haruf aus Pueblo, Colorado, der in Seattle in Washington State lebende Kultautor Matt Ruff und Richard Ford aus Jackson, Mississippi. Bei den Klassikern halte ich es unter anderem mit dem unvergleichlichen Mark Twain (folgen Sie diesem Link, Sie werden es nicht bereuen =)), Gilbert Keith Chesterton und, natürlich möchte man meinen, dem flamboyanten Oscar Wilde. Zweifelsohne ein illustres Who‘s Who der englisch-amerikanischen Literatur.
Mein Lieblingsbuch Winter in Maine aber – sollte es so etwas wie ein Lieblingsbuch überhaupt geben – stammt von Gerard Donovan, einem gebürtigen Iren und Wahlamerikaner, und es ist ein aufwühlender und verstörender Text in der Sprache des Elisabethanischen Englands.
Aufwühlend und verstörend? Worum geht‘s?
Held der Erzählung ist Julius Winsome, der gemeinsam mit seinem Pitbullterrier Hobbes – benannt nach dem englischen Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes – im nördlichsten Zipfel der USA außerhalb Alaskas und inmitten von Büchern ein vordergründig einfaches und einsames Leben lebt. An die 3000 Bücher, darunter wertvolle Erstausgaben, hat er von seinem Vater, der vor 20 Jahren verstorben ist, geerbt; sie sind ihm auch im „wörtlichen Sinne ein Schutzwall gegen das Alleinsein und das Leben da draußen“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2009, Literatur, S. 14).
Eines Tages wird sein Hund aus nächster Nähe mit einer Schrotflinte erschossen, ja geradezu hingerichtet. Doch Julius zieht sich nicht etwa noch weiter zurück, sondern beginnt gegen all jene, die Hobbes erschossen haben könnten, einen Rachefeldzug. Vornehmlich stellt er Jägern, die die Wälder Maines durchstreifen, hinterher, um am Ende der Jagd die immer gleiche Frage zu stellen: Hast du diesen Hund erschossen? Mit den Dramen und Sonetten William Shakespeares aufgewachsen, bedient sich Winsome dabei auch einer Liste von Vokabeln, die ihn sein Vater als Kind aus dessen Stücken hat abschreiben lassen. Dieses Englisch des William Shakespeare gibt er dann auch seinen sterbenden Opfern mit auf die letzte Reise: Du bist blutdurchsiebt, Du bist bestoben.
Beeindruckende Naturschilderungen und nicht zuletzt Donovans Schreibstil und großartige Sprache machen das Buch lesenswert. Das Erstaunlichste aber: Man bringt nicht nur Verständnis auf für Julius Winsome, man bleibt auch auf seiner Seite, als er längst abgedriftet ist hin zu einem Serienmörder.
Ungeachtet dessen wurde der 2008 vom britischen Guardian als Buch des Jahres ausgezeichnete Roman nicht ausschließlich positiv besprochen. Denn so manch Rezensent*in sah hierin einen gewaltverherrlichenden Beitrag zur amerikanischen Waffenkultur.
Winter in Maine jedoch ist ein mitnichten gewaltverherrlichendes Buch. Es thematisiert die Psyche des Menschen: Wie viel Alleinsein verträgt man überhaupt und wie geht man mit Schmerz und Verlust um? Also ein auf gewisse Art und Weise auch zutiefst menschliches Buch.
Take care
Steffen Sieboth