… eine Buchvorstellung zu Matt Ruff: 88 Namen (ISBN 978-3-596-70093-6)
„Es gibt keinen offiziellen Verhaltenskodex. Verrat und Betrug sind an der Tagesordnung: sogar ein gewisses Maß an Cheating ist erlaubt. Das Gleiche gilt für Beleidigungen und Hate Speech: Wenn du deine Gilde Die Alten Kämpfer oder Bitch, Make me A Sandwich nennen möchtest, wird der Kundendienst dich deswegen nicht bannen. Deshalb ist The Fermi Paradox bei Fanatikern genauso beliebt wie bei denjenigen, die Fanatikern gerne eins aufs Maul geben.
Einmal fing eine israelische Gilde namens Rainbow Pride einen Streit mit einer Gruppe russischer Skinheads namens Jews to the Ovens an. Die Rainbows kauften einem ihrer Mitglieder ein Aeroflot-Ticket nach St. Petersburg, wo die Mitglieder von J.T.T.O. in Sozialwohnungen lebten. Kurz vor dem Ingame-Angriff der Rainbows hatten die Sozialwohnungen plötzlich kein Internet mehr. Als die Verbindung wieder stand, war die Flotte von J.T.T.O. vernichtet worden, und ihr Territorium wurde zwischen den Rainbows und der ukrainischen Gilde Putin Fucked My Cat aufgeteilt. Der Sieg war zwar verdient, doch der wahre Gewinner war Fermigames, denn die Dukatenverkäufe schossen in die Höhe, weil andere Weltraum-Nazis ihre gefallenen Kameraden rächen wollten.“
Was Sie soeben wahrscheinlich leicht schmunzelnd zur Kenntnis genommen haben, ist eine Leseprobe aus dem neuen Matt-Ruff-Roman 88 Namen.
Längst genießt der Autor von Fool on the Hill, Ich und die anderen oder auch Lovecraft Country Kultstatus – und auch 88 Namen hat alle meine Erwartungen wieder einmal übertroffen.
Worum geht’s?
John Chu ist Gamer aus Leidenschaft und Inhaber der Firma Sherpa Inc. Er begleitet ahnungslose und zahlungswillige Beginner in die Tiefen des Online-Rollenspiels Call to Wizardry und zeigt ihnen die Tücken des Games. Einer seiner Kunden bezahlt jedoch dermaßen gut, dass sich John fragt, mit wem er es hier zu tun hat und wen genau er da eigentlich durch die virtuellen Welten führt. Es braucht nicht lange, bis er den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un in Verdacht hat …
88 Namen ist großartig, „witzig, kurzweilig, elegant komponiert“ und „eine Art Ersatzdroge“, wie Kritiker Marten Hahn vom Deutschlandfunk dem Buch völlig zu Recht attestiert.
Es geht um Anonymität im Netz, Onlineidentitäten, Computerspiele und überhaupt um Onlinekultur mit all ihren Auswüchsen.
Nichtsdestotrotz ist 88 Namen ein humorvolles Buch, und mir drängt sich ad hoc die Frage auf, woher der Autor bloß all die positiv verrückten Ideen nimmt.
Womöglich liegt es ja an seinem Wohnort Seattle, einem weithin bekannten Platz für Kreative und eines der Premium-Lesegebiete Nordamerikas. Bereits 1913 wusste Bibliotheksleiter Judson Jennings schon über das günstige Leseklima seiner Stadt zu berichten: „Seattle people like books, they like recreation and culture of reading“ (Quelle: John Douglas Marshall: Place of Learning, Place of Dreams, ISBN 0-29598347-7, Seite 55).
Apropos Bibliothek: Damals noch „on the threshold of greatness“ (Quelle: ebd., S. 149), beherbergt Seattle heute tatsächlich eine der weltbesten Bibliotheken, aber das ist eine andere großartige Geschichte.
PWNED
Steffen Sieboth
Anmerkung (Foto-Quellennachweis): Photo by Zhifei Zhou at Unsplash