… eine Buchvorstellung zu Margaret Atwood: Die Zeuginnen (ISBN 978-38270-1404-7)
Das Stockholm-Symptom ist kein Symptom im eigentlichen Sinne. Es ist vielmehr eine Verhaltensanpassung einer Geisel während und nach einer Geiselnahme. Dabei empfinden die Opfer nicht nur Verständnis; oftmals sympathisieren sie sogar mit den Personen, die so unverhohlen Gewalt an ihnen ausüben beziehungsweise ausgeübt haben.
Im dem 1985 veröffentlichten und im Grunde genommen jederzeit aktuellen Roman Der Report der Magd der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood scheinen die der überbordenden Gewalt ausgesetzten Frauen „… im Laufe der Zeit (auch) Opfer einer umfassenden Infantilisierung zu werden. Ihre Anpassung lässt sich mit (ebenjenem) Stockholm-Syndrom vergleichen.“
Visuell nachvollziehen lässt sich das in der vielfach mit Preisen geehrten Drama-Serie The handmaid’s tale, die derzeit auf den Streamingdiensten der Magenta TV Mediathek und Amazon Prime zu sehen ist und dem Roman nebenbei zum Weltbestseller verhalf.
Dabei scheint es unmöglich zu sagen, welche Episode der durchweg hochwertigen Verfilmung herausragt (der beigefügte Link führt zum Episodenguide der IMDb), jede einzelne ist wie ein Donnerschlag, wobei mir persönlich insbesondere Holly unerträglich erschien (für Joseph Fiennes alias Fred Waterford „die abscheulichste aller Szenen“). Eine Zumutung von Episode und definitiv nichts für Zartbesaitete.
Die ersten drei Staffeln habe ich rekordverdächtig schnell verschlungen. Jedoch fällt mir deren Fortsetzung abzuwarten naturgemäß schwer – wer ähnlich ungeduldig ist und nicht ausharren mag, bis die vierte Staffel fertig abgedreht und dann irgendwann in Deutschland veröffentlicht wird, greift womöglich auch auf die Weiterführung des Romans Die Zeuginnen zurück.
Margaret Atwood erzählt darin „das hochdramatische Finale ihrer Kult gewordenen Geschichte“ (Verlagsbeschreibung Buchinnenseite).
Dort, wo die dritte Staffel filmisch endete – Atwood ist diesbezüglich als Mitproduzentin der Verfilmung in Erscheinung getreten – beginnt die Fortsetzung des Romans, die das Werk der kanadischen Autorin endgültig in den Olymp der großen Dystopien katapultiert und Futter für die Feuilletons der großen Tageszeitungen abgab.
Die Zeuginnen, das sind die drei Protagonistinnen Agnes, ein sechzehnjähriges, kanadisches Mädchen namens Daisy und vor allem Lydia, eine frühere Familienrichterin mit dem Fachgebiet Gewalt gegen Frauen, der nunmehr die Aufgabe zukommt, als Betreiberin eines geheimen, genealogischen Archivs die Auflösung offener Fragen voranzutreiben. Sie riskiert ihr Leben, indem sie die Geheimnisse des Unrechtsstaats Gilead in Worte fasst.
Lydia war eine Stütze dieses Staates in Nordamerika (der, beruhend auf einem Staatsstreich, von Säuberungswellen heimgesucht wird und nunmehr selbst dem Untergang geweiht ist), und sie ist gewillt, andere mit sich in den Abgrund zu reißen. Die Schwestern Agnes und Daisy dagegen sind die titelgebenden Zeuginnen, die, so viel darf verraten werden, Gilead überleben und als Zeuginnen 369 A und 369 B auftreten.
Im brutalen Kastensystem Gileads haben Frauen nur eingeschränkte Rechte, insbesondere die ausschließlich dem Erhalt der Menschheit zugedachten Mägde. Denn die Mägde haben zuallererst die Aufgebe, Kinder zu gebären, da Naturkatastrophen und Umweltzerstörung die Erdbevölkerung weitestgehend unfruchtbar gemacht und somit an den Rand der Selbstauslöschung gebracht haben. Als Leibeigene der obersten Kaste dürfen sie nur vorgeschriebene Worthülsen verwenden (Uns wurde schönes Wetter vorhergesagt. Gepriesen sei der Tag.).
Es ist unbedingt von Vorteil, den Report der Magd gelesen oder die verfilmte Serienversion gesehen zu haben (es gibt auch den Spielfilm Die Geschichte der Dienerin von Volker Schlöndorff aus dem Jahr 1990).
Dennoch: Für Rezensentin Tanya Lieske, die für den Deutschlandfunk die Literatursendung Büchermarkt moderiert, steht fest: „Man wird künftig den ‚Report der Magd‘ und ‚Die Zeuginnen‘ in einem Atemzug mit George Orwells ‚1984‘ und mit Aldous Huxleys ‚Schöner Neuer Welt‘ nennen.“
Gepriesen sei der Tag
Steffen Sieboth